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Fokusartikel Gentechfrei Magazin Nr. 117
Der Wert der Vielfalt ist unbezahlbar
Gentechnische Veränderung von Nutzpflanzen als nahtlose Fortsetzung des uralten Prozesses der Domestikation? Die neue Gentechnik füge sich bestens in diese über Jahrtausende fortlaufende Entwicklung ein. Mit solchen Behauptungen versuchen Agrogentechnikbefürwortende, die Öffentlichkeit für ihre Produkte zu gewinnen. Doch Genommanipulation im Labor und Domestikation sind keineswegs vergleichbare Prozesse. Nicht nur auf biologische und soziopolitische Abläufe wirken sie sich unterschiedlich aus – auch die Art und Weise, wie sie Agrobiodiversität und Saatgutsouveränität beeinflussen, lässt sich kaum vergleichen.
Text: Zsofia Hock
Domestikation – die Umwandlung von Wildpflanzen in Kulturpflanzen durch Zuchtauslese – ist ein langer Entwicklungsprozess. Mit der Veränderung natürlicher Ökosysteme durch die landwirtschaftliche Tätigkeit des Menschen entstanden neue Selektionskräfte. Diese wiederum riefen Anpassungen im Genom, im Erscheinungsbild oder im Verhalten der Pflanzen hervor. So verloren beispielsweise viele Kulturarten ihre Fähigkeit, sich auch ohne menschliche Hilfe zu verbreiten, weil die entsprechende Selektionskraft wegfiel. Sie brauchten diese Fähigkeit nicht mehr,um sich zu vermehren.
Die Bühne für die Abläufe der Domestikation bildeten lokale landwirtschaftliche Betriebe. Die treibende Kraft waren lokale Bedürfnisse. Auslese und Kultivierung lagen dabei in der Hand der Bäuerinnen und Bauern – und basierten oft auf einer lebenslangen Verbindung zwischen Menschen und Sorten.
Gentechnik führt zur Zentralisierung und Enteignung von Wissen und Besitzrechten
Sowohl Pflanzenzüchtung als auch Gentechnik unterscheiden sich grundlegend von diesem Prozess, da sie die Pflanzenzüchtung von den landwirtschaftlichen Betrieben weg und hin zu zentralisierten Institutionen verlagern. Dies bestätigt eine neue Studie von US-Forschenden inder Fachzeitschrift «Agriculture and Human Values». Der Trend, der mit der Institutionalisierung der Züchtung angefangen hat, wird von der Gentechnik auf das Extremste verstärkt: Nicht nur dominieren die von der Agrarindustrie als nützlich erachteten Merkmale die Forschung und Entwicklung, sondern auch das Wissen und die Arbeit rund um die pflanzengenetischen Ressourcen wird vom landwirtschaftlichen Betrieb getrennt. Die Zucht der Pflanzen findet nicht mehr auf dem Feld statt, sondern im Labor. Das Privileg, über Saatgut und Wissen zu verfügen, wurde den Bäuerinnen und Bauern weggenommen und zuerst in Institutionen, mit der Entwicklung der Gentechnik dann in die Hände weniger Grosskonzerne verlagert. Patentgeschütztes Saatgut wurde zum geistigen Eigentum und ist somit nicht mehr frei austauschbar oder weiterverwendbar, um noch mehr Vielfalt zu erschaffen.
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Die treibende Kraft bei der Domestikation waren lokale Bedürfnisse. Auslese und Kultivierung lagen dabei in der Hand der Bäuerinnen und Bauern.
Im Sinne der Zentralisierung und der Enteignung des Wissens und der Rechte rund um das Saatgut ist also tatsächlich eine gewisse historische Kontinuität zu bemerken – nicht aber im biologischen Sinn. Während bei der Domestikation aus – genetisch gesehen – diversen Populationen ebenso vielfältige Populationen entstehen, schrumpft die Agrobiodiversität in Folge der Tätigkeit von Züchterinnen und Gentechnikern. Denn dabei wird aus vielfältigen Populationen geschöpft, um durch direkte Selektion genetisch homogene Pflanzen mit besonders wünschenswerten Merkmalen herzustellen.
Irreführende Gehirnwäsche
Aussagen wie «die Menschheit hat bereits vor 10 000 Jahren angefangen, Pflanzen für die Nahrungsmittelproduktion genetisch zu verändern» oder «fast alle aktuell konsumierten Nahrungspflanzen sind grundlegend anders als ihre natürlichen Vorfahren – sie sind über Tausende von Jahren manipuliert worden» sind mittlerweile im öffentlichen Diskurs weit verbreitet. Autoren und Wissenschaftsjournalistinnen, die Domestizierung und Gentechnik in einen Topf werfen, wollen ihrer Leserschaft einreden, dass die Ängste der gentechnikskeptischen Öffentlichkeit irrational und das Resultat eines Mangels an Wissen über Pflanzenbiologie sind. Somit wird versucht, von Bedenken beispielsweise über die unbeabsichtigten Folgen der Technologie abzulenken.
Biodiversitätsverlust ist soziopolitischen Ursprungs
Doch solche Aussagen ignorieren die Kritik an den soziopolitischen Aspekten des intensiven landwirtschaftlichen Systems. Der Verlust der landwirtschaftlichen Biodiversität hat seinen Ursprung nicht in der Biologie, sondern lässt sich vielmehr auf soziopolitische Auslöser zurückführen. Patente auf gentechnisch veränderte Sorten engen die Verfügungsrechte über Sorten ein. Mit der Kon-zentration der Nutzungsrechte bei begrenzten staatlichen und privaten Körperschaften geht wertvolles Wissen verloren und das dezentralisierte System der bäuerlichen Züchtung – der Schlüssel zur Erhaltung der biologischen Vielfalt – wird gesprengt.
Wie sehr die Dominanz der wenigen grossen Agrarunternehmen mit ihrem einheitlichen Angebot die Agrobiodiversität bedroht, lässt sich gut quantifizieren: Wurden in der Vergangenheit etwa 7000 Pflanzenarten zwecks Ernährung angebaut, tragen heute nur noch etwa 80 Sorten massgeblich zur globalen Nahrungsversorgung bei. Die Hälfte aller pflanzenbasierten Kalorien stammt aus nur drei Arten Reis, Mais und Weizen. In Mexiko gingen zwischen 1930 und 1970 etwa 80 Prozent der Maissorten verloren. Dieser Schwund wird durch den massiven Ausbau der kommerzialisierten, industriellen Landwirtschaft weiter verstärkt, die auf immer grösseren Flächen Cash Crops wie Soja für die Tiermast anbaut. Zu nennen ist auch der Aufkauf riesiger Landflächen, das Land Grabbing, durch Investmentfonds, Banken und Regierungen, das mit der Vertreibung der ansässigen Bevölkerung, einer Zerstörung der meist kleinbäuerlich und vielfältig strukturierten Land- und Forstwirtschaft und der Anlage neuer Monokulturen und Plantagen verbunden ist.
In den USA, wo institutionalisierte Pflanzenzüchtung und Gentechnologie die On-Farm-Züchtung fast vollständig ersetzt haben, ist dieses Szenario bereits Realität. Mangels strenger Regulierung der neuen Gentechnikverfahren könnte das USA-Szenario aber schnell auch ein globales werden.
Nur Verfahren, die sich über lange Zeit bewährt haben, sollten von dieser Kontrolle ausgenommen werden. Die neuen Techniken müssen so lange einer Überprüfung unterzogen werden, bis sie gut verstanden werden, ihr Gegenstand genügend bekannt ist und mögliche ökologische oder chronische Gesundheitsschäden Zeit hatten aufzutreten und festgestellt zu werden, folgert das Gutachten. Selbstverständlich ist ein Nullrisiko nicht möglich, doch sind strengeAuflagen umso notwendiger, als bisher die möglichen Risiken den erwarteten (mageren bis nicht vorhandenen) Nutzen der GVO übersteigen.
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In Mexiko gingen zwischen 1930 und 1970 etwa 80 Prozent der Maissorten verloren, in den USA rund 80 bis 95 Prozent der Apfel-, Kohl-, Feldmais-, Erbsen- und Tomatensorten und in China Tausende Weizensorten. Ähnliche Verluste gab es in der Tiervielfalt. In Europa und Nordamerika machen heute Holstein-Rinder 60–90 Prozent aller Milchkühe aus.
Saatgut und Vielfalt sind die Basis der Landwirtschaft
Wer würde dem nicht zustimmen? Pflanzenzüchterinnen und Biotechnologen schöpfen bis heute aus der unermesslichen, über Tausende von Jahren durch die Uneinheitlichkeit der landwirtschaftlichen Praktiken entstandenen Agrobiodiversität. Doch die Lage ist prekär: Die Entscheidung darüber, was und wie in Zukunft gezüchtet, angebaut und konsumiert wird, wird global von immer weniger Konzernen beeinflusst, deren Marktmacht stetig wächst. Für diese Unternehmen ist Saatgut vor allem eins: ein gewinnbringendes Geschäft.
Gewinnbringend ist das Geschäft mit Saatgut, wenn es weltweit an möglichst viele Betriebe verkauft werden kann, die grosse Flächen bewirtschaften. Verbreitet wird das, was sich gut verkaufen
lässt: sogenannte Cash Crops. Inzwischen hat sich nicht nur die landwirtschaftliche Produktion auf dieses einheitliche Angebot eingestellt; es betrifft die ganze Wertschöpfungskette. Egal ob es um Tomaten, Rüebli oder Zucchetti geht: Auch bei diesen Kulturen stammt das Saatgut meist von den grossen Konzernen. Diese entwickeln fast ausschliesslich Hybridsorten. Für Betriebe, die das sehr einheitliche, gleichmässig reifende Gemüse in grossen Chargen verkaufen können, ist dies oft ein Vorteil. Auch der Handel ist zufrieden, erfüllen diese Sorten doch die heute so wichtigen Merkmale der langen Transport- und Lagerfähigkeit. Die Kundschaft muss auf diese Weise jedoch auf eine grosse Farben-, Formen- und Geschmacksvielfalt verzichten: Was nur leicht von der Norm abweicht, schafft es nur schwer oder gar nicht auf den Acker und erst recht nicht in den Handel.
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Dank Organisationen wie ProSpecieRara, die den Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt fördern, ist eine Vielzahl in Vergessenheit geratener Sorten wieder auf den Märkten und in den Läden zu finden, wie
zum Beispiel verschiedene Pastinaken.
Glücklicherweise gibt es Ausnahmen. Biobetriebe und viele nationale Stiftungen zur Erhaltung der Sortenvielfalt bieten ein wachsendes Sortiment an Arten und Sorten an. Die erhöhte Sichtbarkeit des Sortenreichtums hat nicht nur einen direkten didaktischen Nutzen, so wie die Erhaltung der traditionellen Kulturpflanzenvielfalt durch On-Farm-Produktion nicht nur der kulinarischen Bereicherung dient. Sie haben eine grundlegende, über das eigene Land hinaus wegweisende Bedeutung. Es geht um nicht weniger als die globale Ernährungssicherheit in Zeiten des Klimawandels und die Widerstandsfähigkeit landwirtschaftlicher und natürlicher Systeme angesichts globaler Pandemien.
Agrobiodiversität und Klimakrise
Die Klimakrise stellt die Landwirtschaft durch unberechenbare Wetterereignisse sowie erhöhten Krankheitsdruck vor enorme Herausforderungen. Die gezielte Nutzung der Agrobiodiversität – im umfassenden Sinne des Begriffs – kann dabei helfen, landwirtschaftliche Anbausysteme robuster zu machen. Während eine Pflanze, die primär auf Ertragsmaximierung entwickelt wurde, klimatischen Schwankungen ausserhalb ihres Optimums kaum etwas entgegenzusetzen hat, kann ein diversifiziertes Anbausystem diese abpuffern: je mehr Vielfalt auf dem Acker, desto höher die Sicherheit, dass überhaupt noch etwas geerntet werden kann. Gleiches gilt auch für den Schädlings- oder Krankheitsdruck. In homogenen Anbausystemen mit einer geringen genetischen und systemischen Vielfalt können sich Krankheiten und Schädlinge schnell vermehren und ganze Bestände vernichten. Ein vielfältiger Mix verschiedener Arten, Sorten und Strukturen – wie sie z.B. in Agroforstsystemen vorhanden sind – bremst die Verbreitung von Krankheiten und Schädlingen aus und beugt kompletten Ertragsausfällen vor.
Agrobiodiversität und Pandemien
Nicht zuletzt können vielfältige Anbausysteme und Strukturen die Ausbreitung globaler Pandemien wie wir sie seit 2020 mit Covid-19 erleben, bremsen oder verhindern. Wird ein Stück tropischer Regenwald, bestehend aus verschiedenen Bäumen, Sträuchern, ein- und mehrjährigen Pflanzen abgeholzt und zerstört, um einer Palmölplantage Platz zu machen, verlieren Wildtiere wie Fledermäuse, die inzwischen als «Virusträger» bekannt sind, ihren Lebensraum. Sie lassen sich nun in der Plantage nieder. Hier finden sie nicht nur Nahrung, sondern können sich auch – ohne natürliche Feinde – stark vermehren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie über Bisse oder ihren Speichel Krankheitserreger an die in der Plantage arbeitenden Menschen weitergeben, steigt. Über einige weitere Zwischenschritte – und mit Hilfe der globalen Warenketten – können sich Erreger auf diese Weise weit über die Ursprungsregion hinaus verbreiten. Es ist also höchste Zeit, dass die verbliebene Vielfalt natürlicher Lebensräume erhalten bleibt und die landwirtschaftliche Vielfalt zurück auf die Äcker findet. Deshalb ist es wichtig, die irreführende Semantik der gewinnorientierten Gentechnik zu entlarven und die Domestikation eindeutig von Pflanzenzüchtung und Gentechnik abzugrenzen, um die Pflanzenvielfalt und die soziopolitischen Beziehungen, die sie fördern, zu erhalten.
Die Ausführungen zu Saatgut und Vielfalt basieren auf: Gelinsky, E. 2021; Vom Wert der Vielfalt: Warum die Erhaltung der Agrobiodiversität in der Schweiz eine globale Dimension hat. In: Schweizer
Heimatschutz (Hrsg.): Schulthess Gartenpreis 2021 für die Stiftung ProSpecieRara, S. 8 –10.