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Fokusartikel Gentechfrei Magazin Nr. 126

In Europa droht eine weitreichende Deregulierung der neuen Gentechnik

Anfang Juli hat die EU-Kommission einen Verordnungsentwurf zur Deregulierung der neuen gentechnischen Verfahren vorgestellt. Wird dieser angenommen, droht der gentechnikfreien Land- und Lebensmittelwirtschaft in Europa das Aus.
Technologien wie CRISPR/Cas blockieren die wirklich wichtigen und dringlichen Umbaumassnahmen in der Landwirtschaft. Daher sollte ihre Deregulierung auch in der Schweiz entschieden bekämpft werden.

Text: Eva Gelinsky

Hohe Temperaturen, Trockenheit und Gletscherschwund; bereits 2022 war ein Jahr der Rekorde in Europa. Besonders betroffen von diesen Extremen war und ist die Landwirtschaft. Auch 2023 werden Bäuerinnen und Bauern Ernteverluste hinnehmen müssen. Aufgrund extremer Hitze breiteten sich in Portugal und Griechenland Waldbrände aus, und auch in Italien, Kroatien und der Türkei wüteten Feuer. Schwere Hagelunwetter und Starkniederschläge, u. a. in Norditalien und zuletzt in Slowenien, setzten der landwirtschaftlichen Produktion zusätzlich zu. Diese Entwicklungen machen einmal mehr klar, dass es für eine nur schrittweise sozialökologische Transformation keine Zeit und keinen Spielraum mehr gibt. Zu den vordringlichsten Massnahmen, die jetzt in Angriff genommen werden müssen, gehört ein grundlegender Umbau der Landwirtschaft. Priorität hierbei sollten ein Ausbau der Biolandwirtschaft sowie ein umfassendes Wasser- und Bodenmanagement haben.

Die Politik allerdings verlässt sich wenig überraschend unter den herrschenden Verhältnissen, einmal mehr auf Technologien. Mithilfe von neuen gentechnischen Verfahren wie CRISPR/Cas sollen sich Pflanzen entwickeln lassen,1 die sowohl Dürren als auch Unwettern besser widerstehen. Sie sollen gleichzeitig höhere Erträge liefern und weniger Dünger und Wasser verbrauchen. Auch sollen sie resistenter gegen Schädlinge sein, wodurch sich Pestizide einsparen lassen. Dass es solche Wunderpflanzen weltweit noch nicht gibt und sich komplexe Eigenschaften kaum mit Verfahren wie CRISPR/Cas entwickeln lassen werden, interessiert die Apologet:innen der Technologien wenig. Kaum diskutiert wird auch die Tatsache, dass «trockenheitstolerante» Pflanzen kaum gegen Starkniederschläge helfen würden; es ist ja gerade die Volatilität der Verhältnisse, die Landwirt:innen zunehmend Schwierigkeiten bereitet.

Mit dem Anfang Juli von der EU-Kommission vorgestellten Verordnungsentwurf («Rechtsvorschriften für Pflanzen, die mithilfe bestimmter neuer genomischer Verfahren gewonnen werden»)2 soll nun der Weg für neue Gentechnikpflanzen in der EU bereitet werden. In den nächsten Wochen müssen das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten im Ministerrat jeweils einen Standpunkt zum Kommissionsvorschlag erarbeiten. Die spanische Ratspräsidentschaft hat bereits angekündigt, das Thema energisch voranzutreiben: Bis Dezember will sie im EU-Agrarrat eine Einigung über die neue EU-Gentechnikverordnung herbeiführen.3 Wird die Verordnung in dieser Form umgesetzt, steht die gentechnikfreie (konventionelle und ökologische) Land- und Lebensmittelwirtschaft in Europa vor dem Aus.

Auch in der Schweiz laufen die Vorbereitungen für eine rechtliche Anpassung. Der Bundesrat 4 muss bis Mitte 2024 einen Erlassentwurf «für eine risikobasierte Zulassungsregelung» für pflanzliche Organismen vorlegen, die mit neuen Gentechniken (NGT) hergestellt wurden und die «gegenüber den herkömmlichen Züchtungsmethoden einen nachgewiesenen Mehrwert für die Landwirtschaft, die Umwelt oder die Konsumentinnen und Konsumenten haben». Worin dieser «Mehrwert» bestehen soll und wie eine «risikobasierte Zulassung» für NGT aussehen könnte, wenn gerade keine Risikoprüfung gemäss Gentechnikgesetz mehr verlangt wird, ist immer noch unklar.

Der Verordnungsentwurf der EU-Kommission gilt nur für Pflanzen, die mit «gezielter Mutagenese» oder Cisgenese gentechnisch verändert wurden, in die also «arteigenes» Genmaterial eingebracht wurde. Für transgene Pflanzen, denen mit neuen gentechnischen Verfahren «artfremde» Gene eingefügt wurden, sollen nach dem Willen der EU-Kommission weiter die bisherigen Regeln gelten.5 Die so definierten NGT-Pflanzen und daraus hergestellte Lebens- und Futtermittel teilt der Entwurf in zwei Kategorien: Pflanzen der Kategorie 1 sollen nicht mehr unter das bisherige Gentechnikrecht fallen. Damit gäbe es für sie keinerlei Risikobewertung mehr, auch das Standortregister und das obligatorische Monitoring entfallen. Gekennzeichnet werden soll nur noch das Saatgut; Lebens- oder Futtermittel aus diesen Pflanzen kämen ohne jeglichen Hinweis auf das Herstellungsverfahren auf den Markt. Es würden auch keine Nachweisverfahren mehr verlangt. Die EU-Kommission begründet diese weitgehende Deregulierung damit, dass die gentechnischen Veränderungen theoretisch auch durch natürliche Mutation erzielt oder herkömmlich gezüchtet werden könnten. Eine Behauptung, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.

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Wird die neue Gentechnik dereguliert, können konventionell oder ökologisch produziertes Getreide, Gemüse und Obst nicht mehr vor Kontaminationen geschützt werden.


Bei einer Pflanze der Kategorie 1 erlaubt der Kommissionsentwurf, dass sie bis zu 20 (verschiedene) genetische Veränderungen aufweisen darf und - ohne weitere wissenschaftliche Analyse und Risikobewertung - trotzdem als gleichwertig mit konventionellen Pflanzen angesehen und ohne Kennzeichnung oder Rückverfolgbarkeit vermarktet werden kann. Das European Network of Scientists for Social and Environmental Responsibility (ENSSER)6 kritisiert dies in einer Stellungnahme scharf: Die gewählten Kriterien seien willkürlich, unklar definiert und im konkreten Fall schwer interpretierbar. Um die Risiken einer neuartigen Pflanze tatsächlich einschätzen zu können, müssten ganz andere Aspekte abgefragt werden: So ist bekannt, dass es nicht auf die Anzahl der bei einer Mutation veränderten Nukleotide ankommt, sondern auf die intendierten und nicht intendierten Folgen der Veränderung, z. B. veränderte Genfunktionen. Auch ist relevant, an welcher Stelle im Erbgut Mutationen auftreten.

Unbeabsichtigte Veränderungen, die es im gesamten Genom durch die verschiedenen Verfahrensschritte einer gentechnischen Veränderung geben kann, sind im Verordnungsentwurf7 ausdrücklich von allen Anforderungen an Nachweis und Analyse ausgenommen. Sie werden für den Regulierungsprozess quasi unsichtbar, obwohl ihr hohes Risikopotenzial bekannt ist.

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Die Schweiz bezieht grosse Mengen Saatgut aus der EU. Eine Deregulierung in der EU betrifft also auch die Schweizer Landwirtschaft.


Testbiotech weist in einer Stellungnahme zum Verordnungsentwurf darauf hin, dass in Zukunft auch NGT-Pflanzen, die sich substanziell von konventionell gezüchteten Pflanzen unterscheiden, ohne spezifische Kontrollen freigesetzt und vermarktet werden könnten. Dazu zählt z. B. die in Japan zugelassene GABA-Tomate, deren Verzehr angeblich entspannungsfördernd und blutdrucksenkend wirken soll. Die Anzahl und die Grösse der genetischen Veränderungen in der Tomate liegen im Rahmen der vorgeschlagenen Kriterien, mit denen die Gleichwertigkeit zur konventionellen Züchtung festgelegt werden soll. Entsprechend der neuen EU-Regulierung könnten die beabsichtigten Eigenschaften der Tomaten höchstens noch als «novel food» reguliert werden, unbeabsichtigte genetische Veränderungen sowie Auswirkungen auf die Umwelt8 würden nicht mehr geprüft.

NGT-Pflanzen der Kategorie 2 sollen entsprechend ihres «Risikoprofils» reguliert werden. Nur bei «plausiblen Hinweisen» auf Risiken soll eine differenziertere Risikobewertung erforderlich sein. Neben der abgeschwächten Risikoprüfung kann die im bisherigen Gentechnikrecht verankerte Pflicht zur Vorlage eines Nachweisverfahrens entfallen, wenn die Antragsteller «belegen» können, dass sich ein derartiger Nachweis technisch nicht entwickeln lässt. 9

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Pflanzen wie die GABA-Tomate könnten in Zukunft unreguliert und ungekennzeichnet auf den Markt kommen.


Mit der geplanten Deregulierung der neuen Gentechnik leitet die EU-Kommission einen Paradigmenwechsel ein: Bis jetzt war die Produktion gentechnikfreier Lebens- und Futtermittel ein wichtiger Wettbewerbsvorteil für die europäischen Betriebe. Konventionell oder ökologisch produziertes Getreide, Gemüse und Obst waren in Europa zu 100 % gentechnikfrei. Da ein Schutz vor Kontaminationen in Zukunft schwierig bis unmöglich wird - bei Koexistenzregeln (nur für NGT-Kategorie-2-Pflanzen) droht ein Flickenteppich10, ein Opt-out für Mitgliedstaaten ist nicht mehr vorgesehen –, dürften die landwirtschaftlichen Betriebe und Verarbeiter diesen Wettbewerbsvorteil rasch verlieren. Den Druck der globalen Konkurrenz werden besonders bäuerliche Betriebe zu spüren bekommen, also ausgerechnet jene, die für die Agrarwende so wichtig wären. Akut bedroht ist auch der Biolandbau, obwohl gerade dessen Ausbau ein wirksames Mittel wäre, um die Folgen der Erderhitzung für die die Landwirtschaft zumindest abzumildern. Profitieren werden einzig multinationale Chemie- und Saatgutkonzerne wie Bayer und Co., da sie – über die Patentierung – neue Möglichkeiten erhalten, um ihre marktbeherrschende Stellung weiter auszubauen.

Für die gentechnikkritische Szene in der Schweiz sollte angesichts der auch hier anstehenden politischen Diskussionen klar sein: Technologien wie CRISPR/Cas blockieren die wirklich wichtigen und dringlichen Umbaumassnahmen in der Landwirtschaft. Daher muss ihre Deregulierung entschieden bekämpft werden.

1 Gelinsky, E. 2023: Neue Gentechnik. Als Lösungspotenzial überbewertet. In: Kultur und Politik, 2/2023, S. 4 – 5. Online verfügbar unter: www.semnar.ch/pdfs/kultur_politik_2_2023_Gelinsky.pdf
2 www.ec.europa.eu/info/law/better-regulation/haveyour-say/initiatives/13119-Rechtsvorschriften-fur-Pflanzendie-mithilfe-bestimmter-neuer-genomischer-Verfahren-gewonnen-werden_de
3 Zum aktuellen politischen Prozess siehe z. B. www.keine-gentechnik.de/nachricht/34804?cHash=7aa6859810d054c52310e258b15cb8b3
4 www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-92722.html
5 Das Gleiche gilt für «herkömmliche» transgene Gentechnikpflanzen.
6 Analysis statement by ENSSER on the EU Commission’s new GM proposal. Here for Annex 1 on NGT “equivalence criteria”. Online verfügbar unter: www.ensser.org/press_release/analysis-statement-byensser-on-the-eu-commissions-new-gm-proposal-herefor-annex-1-on-ngt-equivalence-criteria/
7 Background on the EU Commission draft proposal for criteria concerning the equivalence of NGT plants to conventional plants. Online verfügbar unter: https://www.testbiotech.org/content/background-eu-commission-draft-proposal-criteria-equivalence-ngt-plants
8 Angesichts der vielfältigen Funktionen von GABA – die γ-Aminobuttersäure steuert u. a. das Wachstum der Pflanzen, die Resistenz gegen Schädlinge und Pflanzenkrankheiten – ist anzunehmen, dass ein derartiger Eingriff ins Erbgut den Stoffwechsel der Tomaten auf verschiedenen Ebenen beeinflusst. Dies führt möglicherweise auch zu ungewollten gesundheitlichen Auswirkungen beim Verzehr der Früchte. Zudem können bei den Pflanzen veränderte Reaktionen auf Umwelteinflüsse auftreten, was wiederum auch Einfluss auf die Inhaltsstoffe der Früchte und deren Verträglichkeit haben kann.
9 Weitere Details und Bewertungen zum Verordnungsentwurf gibt es z. B. in der Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für bäuerliche Landwirtschaft (AbL): https://www.abl-ev.de/fileadmin/Dokumente/AbL_ev/Gentechnikfrei/Hintergrund/AbL-Bewertung_Verordnungsentwurf_zu_den_neuen_Gentechnik-Pflanzen_25.07.2023.pdf
10 Koexistenzregeln sollen zukünftig in den einzelnen Mitgliedstaaten entwickelt und umgesetzt werden.


PDF Gentechfrei Magazin, Nr. 126